Oftmals heißt es von Trainern: „Erst die Technik, dann die Gewichte“. Diese Aussage ist grundsätzlich nicht falsch, jedoch wird hierbei vergessen zu hinterfragen, ob die Gelenke, Sehnen, Bänder, Muskeln, etc. (alle unsere Strukturen) die Belastung des Technik-Trainings überhaupt aushalten oder eine korrekte Form zulassen.

 

Kompensieren statt kontrollieren

Ein populäres Beispiel für das Auftreten von Kompensationen ist CrossFit. Eine normale Stunde besteht aus einem Warm-up, einem Technik- oder Kraftteil und einem Workout. So kann der Fokus an einem Tag beispielsweise auf dem Jerk (Ausstoßen) liegen. Neue und unerfahrene Mitglieder werden einen erhöhten Technikfokus haben und erfahrenere Athleten werden mit mehr Gewicht arbeiten, um stärker zu werden. Sobald die Technik stimmt, wird das Gewicht gesteigert. Meistens fällt es hierbei jedoch nicht auf, dass die vermeintlich gute Technik nur durch eine oder mehrere Kompensationen erreicht wird. Eine wesentliche Voraussetzung für das Überkopfdrücken der Stange, egal ob mit oder ohne Schwung, ist die Überkopfbeweglichkeit. Die Arme müssen hierfür gestreckt nach oben gehoben werden können, ohne dass sich die Körperhaltung ansonsten verändert (s. Bild 3). Eine häufige Ausweichbewegung ist hierbei die Überstreckung im unteren Rücken (s. Bild 2). Wenn die Arme nicht ganz über den Kopf gehoben werden können (s. Bild 1), wird der Rücken überstreckt, damit das Gewicht über den Kopf gedrückt werden kann (s. Bild 2). Eine solche Kompensation wird ohne Gewicht oder mit sehr leichten Gewichten vermutlich zu keinen Problemen führen. Werden die Gewichte nun allerdings gesteigert, kann dies zu Problemen im Rücken und auch in den Schultern führen. Oftmals ist es den Athleten wichtiger viel Gewicht über den Kopf zu bringen oder eine gute Zeit im Workout zu haben, als auf eine kleine Kompensation des Rückens zu achten.

 

(1) ungenügende Beweglichkeit/Kapazität (2) Kompensation (3) ausreichende Beweglichkeit/Kapazität

 

Kapazität vor Technik

Sollte die Kapazität (Bewegungsradius) nicht ausreichen und Kompensationen auftreten, sollte nicht nur auf das Steigern der Gewichte verzichtet werden, sondern sogar auf das Technik-Training. Da mit der aktuellen Beweglichkeit die korrekte Position nicht eingenommen werden kann, würde sich bei einem Technik-Training ein falsches Bewegungsmuster einprägen, welches anschließend wieder korrigiert werden müsste. Es muss erst einmal damit begonnen werden die Kapazität der Schulter (in diesem Fall die Flexion / Überkopfbeweglichkeit) so weit zu verbessern, dass die Arme über den Kopf gehoben werden können ohne, dass der Rücken überstreckt wird.

Dies gilt nicht nur für die Schulter und den Jerk, sondern für jedes einzelne Gelenk, jede Sehne und jeden Muskel, kurz jede Struktur, in unserem Körper. Erst wenn die Kapazität groß genug ist, kann mit einem Technik-Training begonnen werden. Es gilt somit:

 

Mobility-Training > Technik-Training > Workout

 

Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass das Mobility-Training aufhört, sobald man den notwendigen Bewegungsradius geschaffen hat. Genauso wenig hört ein Technik-Training auf, wenn man eine Übung „beherrscht“. Zum Mobility-Trainign gehört nämlich nicht nur das Vergrößern eines Bewegungsradius sondern auch das gezielte kräftigen von Endpositionen.

Das oben genannte Beispiel aus dem CrossFit soll diese Sportart allerdings nicht verteufeln, ganz im Gegenteil. Immerhin wird hier in vielen Fällen ein vernünftiges Technik-Training absolviert und ein Trainer weist die Mitglieder an wie eine Übung korrekt auszuführen ist. Dies wird in vielen Sportarten nicht gemacht. So trainieren viel Menschen im Fitnessstudio einfach drauf los oder fangen an zu laufen, ohne zu wissen, ob die Hüfte, Knie und Sprunggelenke die dafür notwendige Kapazität besitzen.

 

Gezielte Analyse, gezieltes Training

Eine gute Möglichkeit die Kapazität der Strukturen zur erhöhen kommt aus dem FRC-Konzept (Functional Range Conditioning) von Dr. Andreo Spina (erfahre mehr dazu hier). Hier wird in einem Assessment zunächst jedes größere Gelenk auf die aktive und passive Beweglichkeit getestet. Bei der passiven Beweglichkeit wird geschaut wie weit ich beispielsweise den Arm durch eine externe Kraft über den Kopf bringen kann ohne das Kompensationen auftreten. Bei der aktiven Beweglichkeit wird die gleiche Bewegung durch ein aktives Heben des Arms getestet. Häufig wird hierbei ebenfalls kompensiert indem der Rücken überstreckt oder der Ellenbogen gebeugt wird, um einen größeren Bewegungsradius zu erschummeln. Es zählt bei beiden Tests jedoch nur der kompensationsfrei Bewegungsumfang. In gleicher Weise wird mit den anderen Gelenken und Bewegungsrichtungen wie Abduktion, Adduktion, Extension und Rotation verfahren. Sollte das Bewegungsausmaß der aktiven Beweglichkeit nicht ausreichen, um eine Bewegung durchzuführen, muss dieses zunächst gesteigert werden. Dies gilt auch für den Fall, wenn der passive Bewegungsumfang groß genug ist, um die Bewegung auszuführen, da dieser Bewegungsumfang nicht aktiv kontrolliert werden kann und somit auch hier Kompensationen notwendig sind.

Um auf das Beispiel des Jerks zurückzukommen stellen wir uns drei verschiedene Athleten vor. Athlet 1 hat eine passive Schulterflexion (Heben des Arms überkopf) von 190° und eine aktive Schulterflexion von 170°. Athlet 2 hat 185° passiv und 180° aktiv. Athlet 3 hat 170° passiv und 160° aktiv. Von diese drei Athleten dürfte nur Athlet 2 Übungen machen, bei denen der Arm 180° gestreckt über den Kopf gehoben werden muss (sofern die übrigen Voraussetzungen gegeben sind). Hierzu zählen neben dem Jerk auch Klimmzüge und Schulterdrücken. Athlet 1 und 3 müssten vorerst darauf verzichten, da diese nicht genügend Schulterflexion haben. Athlet 1 hat bereits den passiven Bewegungsumfang und muss nun lernen diesen zu kontrollieren. Athlet 3 hingegen fehlt sogar der passive Bewegungsumfang. Hier kommt es zwangsläufig zu Kompensationen, wenn der Arm in eine Überkopf-Position gezwungen wird. Es muss deshalb erst der passive Bewegungsumfang gesteigert werden und gleichzeitig gelernt werden diesen zu kontrollieren, bevor Übungen wie der Jerk geübt werden können. Es bedeutet für die Athleten 1 und 3 jedoch nicht, dass diese keine Übungen über dem Kopf machen dürfen. Es muss hier lediglich der Bewegungsumfang der Flexion verringert werden. So können beispielsweise Klimmzüge durch Rudern am TRX und Schulterdrücken durch Schrägbankdrücken ersetzt werden. Diese Ersatzübungen stellen natürlich keine 100%-ige Abbildung der anderen Übungen dar, jedoch dienen diese als gute Möglichkeit das Training fortzusetzen, bis die ausreichende Schulterkapazität geschaffen ist. Grundlage für ein sicheres Training stellt somit ein genaues Assessment aller Gelenke dar. Denn nur so können Übungen ausgewählt werden, ohne dabei durch Kompensationen Verletzungen zu begünstigen.

 

Wenn du also das nächste Mal an deiner Technik feilst oder ein Workout machst überlege dir: Besitzt mein Körper die dafür notwendigen Voraussetzungen?

 

Jannis Denecke